Baroque Music in the 21st Century


Vor fünfzehn Jahren, im Jahr 1997, veröffentlicht Winter&Winter mit Johann Sebastian Bachs Violoncello Solo-Suiten die erste Produktion. Am Anfang steht ein Schlüsselwerk der Barockmusik, aufgenommen mit handverlesenen Mikrophonen in der wohlklingenden Villa Medici-Giulini nahe Mailand. Die Farben der Musik und des Klangs stehen im Mittelpunkt. Paolo Beschi lässt die Saiten seines Originalinstruments nicht für ein Konzertpublikum, sondern für einen einzelnen Zuhörer erklingen, für den diese Produktion bestimmt ist. Als Stefan Winter zusammen mit Paolo Beschi in seinem Haus am Comer See mit Bachs Musik arbeitet, wird deutlich, dass die Aufführung für ein Konzertpublikum anderen Regeln unterworfen ist, als das Spiel für einen einzigen Hörer. Winter will diese Intimität für die Aufnahme des Werks erzeugen und eigenständige Klangwerke für den aufmerksamen und neugierigen Hörer schaffen. So entstehen in den vergangenen fünfzehn Jahren 200 Produktionen. Vielleicht erscheint es überraschend, dass Barockmusik zum Schwerpunkt von Winter&Winter zählt, da augenscheinlich diese Edition dem Jazz verschrieben ist. Doch Stefan Winters musikalischer Grundstein wird im musischen Gymnasium St Gotthard in Niederaltaich gelegt. Dort wirkt Dr. Konrad Ruhland, der in den 60er und Anfang der 70er Jahren mit Nikolaus Harnoncourt und anderen Größen die historische Aufführungspraxis der Renaissance- und Barockmusik mitentwickelt. Winter kommt mit der Musik der Capella Antiqua München, des Leonhardt Consorts und des Concentus Musicus Wien in Berührung. Il Giardino Armonico, 1985 gegründet, gehört zur ersten Generation nach Harnoncourt. Paolo Beschi ist Gründungsmitglied von Il Giardino Armonico und Stefan Winter wählt ihn aus, um mit den Cello Solo-Suiten von Bach das neue Label Winter&Winter im Jahr 1997 zu eröffnen.

 

Der Zufall will es, dass auch das zweite Gründungsmitglied von Il Giardino Armonico zu Winter&Winter stößt. Lorenzo Ghielmi wirkt bei sieben Produktionen mit und schafft eigene Soloalben. Stefan Winter produziert auch Werke seines Bruders Vittorio Ghielmi, der nun den amerikanischen Komponisten und Jazzpianisten Uri Caine kennen und schätzen lernt. Die Wege, mit den Musikern je einen Kanon zu schaffen, die sich dann teilweise kreuzen, beginnen.

 

2012, fünfzehn Jahre nach Herausgabe der ersten Produktion, stellt Winter&Winter als 201. Veröffentlichung ein Album mit verschiedenen Werken der Barockmusik vor. Bachs Kunst der Fuge von Lorenzo und Vittorio Ghielmi eröffnet und Paolo Beschis Prélude aus der IV. Violoncello Solo-Suite schließt den Reigen. Ganz bewußt steht am Ende ein Präludium mit wieder eröffnendem Charakter. Uri Caines Fassung von Variation 18 aus Bachs Goldberg Variationen mit Ghielmis Gamben-Quartett und Caines Improvisationen auf einem Silbermann Piano führen die musikalische Reise in die Welt des Barock an der Schwelle vom 20. zum 21. Jahrhundert. Auch diese besondere Aufnahme entsteht in der Villa Medici-Giulini. Die Freitagsakademie, ein Barockensemble Schweizer Spitzenmusiker, musiziert mit der schwedischen Sopranistin Susanne Rydén Händel. Bach hat es vermieden, Händel persönlich kennenzulernen, aber ihre Musik trifft nun aufeinander. Der noch so junge, aufstrebende spanische Ensembleleiter von Forma Antiqva, Aarón Zapico, spielt Frescobaldis Gagliarda Prima. Nach dem Concentus Musicus und Il Giardino Armonico bildet Zapicos Forma Antiqva die dritte Generation von Künstlern, die sich intensiv mit Barock jetzt im 21. Jahrhundert auseinandersetzen und vollends aus dem Museum befreien. Über Forqueray führt der Weg wieder zurück zu Bach, um den diese Produktion kreist. Der holländische Jazzmusiker Ernst Reijseger improvisiert zu Bachs Harmonien, und Teodoro Anzellotti übersetzt die Goldberg Variationen auf sein neues Instrument, das Akkordeon ist Bach unbekannt, doch wahrscheinlich hätte er wie Berio, Kagel oder Sciarrino gerne dafür komponiert. Der englische Tonsetzer Purcell steuert eine Art Zwischenspiel mit Gambenklängen von Vittorio Ghielmi bei, um wieder mit Bach weiterzuführen. Diesmal spielt Caine Bach und dann folgt das Allegro aus dem III. Konzert der Brandenburgischen mit der Freitagsakademie. Die Brücke zu Monika Mauchs wundervoller Stimme ist geschlagen, sie singt mit Marianne Rônez an der Viola d'amore und Affetti Musicali Attilio Ariostis "Pur al fin gentil Viola". Wieder sind wir in der Villa Medici-Giulini, alle Klänge sind rein ohne Bearbeitung aufgezeichnet. Die Brüder Zapico steuern ihr erfrischendes "Concerto" von Kapsberger dazu, um dann mit dem großen Ensemble Forma Antiqva Antonio Vivaldi ganz neu zu wagen. Die bekannten Klänge aus den "Vier Jahreszeiten" wirken ungewöhnlich, nie so gehört und doch auf Originalinstrumenten gespielt. Anzellotti verzaubert Domenico Scarlatti mit den Klängen seines Akkordeons und Enrico Onofri, erster Geiger von Il Giardino Armonico, spielt mit Lorenzo Ghielmi und Margret Köll Dario Castello. Vor dem Schluss schmettern die Windsbacher "Tönet, ihr Pauken" und Paolo Beschi eröffnet mit dem Präludium aus der IV. Suite von Bachs Violoncello Solowerk die Klänge, die bei Winter&Winter noch entstehen werden.

 

In den vergangenen Jahrhunderten hat sich die Aufführungspraxis der Barockmusik immer wieder gewandelt. Kein festzementiertes Szenario hat diese Klangkunst bestimmt. Der Instrumentenbau wandelt sich, aber auch die Aufführungsorte verändern ihre Gestalt und ihr Gesicht. Heute gehören Rezipienten nicht mehr fast ausschließlich einer privilegierten Schicht an, Barockmusik kann nicht nur in Konzerten erfahren werden, sondern die Aufnahmekunst bringt die Klänge nach Hause. Winter&Winter setzt Barockes mit eigener Handschrift um. Produzent Stefan Winter sucht liebevolle Querdenker, die souverän die alten Notentexte zu ihrer neuen, eigenen Musik machen und manchmal auch Grenzen zum Jazz überschreiten. Uri Caine improvisiert mit Vittorio Ghielmi, Ernst Reijseger spielt Bach, Teodoro Anzellotti entdeckt das barocke Akkordeon. Die Freitagsakademie entführt die Brandenburgischen aus dem Konzertsaal und Aarón Zapico lässt Schmerz, Trauer, Leidenschaft, Liebe und Glück erklingen, so wirkt mit jugendlichem Elan die Affektenlehre auch nach der Barockzeit bis in die Jetztzeit.

 


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