Au Bordel - Souvenirs de Paris


Es spielt sich gegen Ende des Monats August 1998 ab: einige unabhängige Geister versammeln sich insgeheim an einem Ort, dessen Name wie eine Losung im Umlauf ist: Die bestürzten Augenblicke. Zwei Tage und zwei Nächte lang zetteln sie eine Verschwörung an, erfinden sie den Gruppenrausch aufs Neue, begeben sich erneut in den Zustand des Verlangens. Dort finden wir Abenteurer aller Art, geborene Improvisationskünstler, wandelbare Schnulzensänger, Kabarettsängerinnen, zweitklassige Dichter, Stripteasetänzerinnen, ein wenig entblößte Bedienungen, einige leicht erregte Freunde. Sie stimmen gepfefferte Aufschneidereien oder zu Tränen rührende Romanzen an. Was da durch die Wiedererweckung der Bordellieder und anderer Lieder dieser Art wieder auflebt, hat mit dem Geist des Kabaretts zu tun. Wir haben es hier mit einem aufsässigen Geist, einem Provokateur, einem Unruhestifter zu tun. Die meisten modernen, ästhetischen oder politischen Revolutionen sind partiell mit dem Geist des Kabaretts verbunden gewesen. Das kommt nicht von ungefähr. Dieser verschlossene Ort, trotzdem für jedermann leicht zugänglich, erlaubt alle Exzesse, alle Überschreitungen, alle Schauder.

 

Hier geht es vermutlich nicht um die Bestrebung, die Gesellschaft umzustürzen, sondern eher darum, aus einer unter der Haut liegenden Energie, aus einem Repertoire, das die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft intim verbindet, zu schöpfen, und ein Verlangen, eine Ungeduld oder eine Extravaganz (wieder) ins Spiel zu bringen und ihnen (wieder) auf die Beine zu helfen. Was vielleicht auf dasselbe hinausläuft. Der Schauplatz ist die Nacht, eine dieser Nächte, in der alles geschehen kann. Man vereinigt sich mit dem Kreislauf der Gelüste und dem Widerwillen, der Leidenschaften und der Zurückweisungen, und so weiter. Hier ist das Leben der Sinne am Werk, aber auch das Leben des Geistes. Es ist gleichzeitig unglaublich ernst und absolut unernst, manchmal sogar ein wenig spöttisch. Es gibt eine Dramatik, eine Erzählung, eine Geschichte, die sich wie in einem Film erzählt, in dem man vom Sonnenuntergang zum Sonnenaufgang geht, sowie vom Hautkontakt zum Phantasieaustausch, von der Leichtsinnigkeit des grenzenlosen Überschwangs zu den unvergänglichen Liebesschwüren, von der Ewigkeit des Augenblicks der Liebe bis zu den notorischen Anzüglichkeiten, und auch von den höchst fatalen Anziehungen zu den schwärzesten Beziehungsbrüchen. Hier lässt man alles Revue passieren, wie im Varieté, wo jedermann sein Liedlein anstimmt, von der Belle Epoque bis zur Epoche von Godard oder Gainsbourg mit einem Umweg über unsere. Vorbei ziehen die Schatten des fiebrigen Deutschlands der Zwanziger Jahre, des vergessenen Paris der Dreißiger Jahre, von Piaf, Marlene, Faßbinder und Ferré, die Schatten der Nebenrollen des französischen Kinos, von Francis Blanche oder von Bourvil bei Mocky. Jedoch nichts Archäologisches, sondern die alleinige Notwendigkeit des gegenwärtigen Augenblicks, eine Art, die Aktualität des Verlangens zu empfinden, die nur unter bestimmten Umständen ausgedrückt werden kann.

 

Diese CD ist die Schöpfung von Situationen mit einem Orchester von veränderlicher Zusammensetzung, in dem das Akkordeon von Stian Carstensen, das Klavier von Charlie O., der Sopran von Lol Coxhill, der Geist von Noël Akchoté vorherrschen. Weit weg von den Studios, von der hygienischen Besessenheit und vom generellen Simulieren leben, vergehen und leben aufs Neue Wörter, Sätze, Melodien, die von einem Dasein erzählen, das an allen vier Ecken lichterloh brennt, sowie vom unbändigen Gelächter der unersättlichen Nächte, von der Unmittelbarkeit der Sinneseindrücke und der Distanz der Gefühle, vom Sinnbild der ineinander verschlungenen Körper. Im Grunde fängt diese CD ein, was sich in einem guten Lied immer wieder abspielt: den Affekt in seiner reinsten Darstellung. Hören Sie die Titel »Obsession d'amour«, »Mon homme«, »Le Mépris« oder auch »Ah les femmes«, »Tu me plais«, »Falling in Love Again«, »Fleur de joie«, und Sie werden sehen, dass es von der Tragödie zur Komödie, vom Erhabenen zur Parodie, immer wieder dasselbe Hin und Her, vom Ganzen zum Nichts, vom Nichts zum Ganzen, immer wieder dieselben kampfeslustigen Lieder, dasselbe Laboratorium, dieselbe Fabrik der Leidenschaften ist. Mit einem Wort, die grosse Leidenschaft.

 

— Thierry Jousse


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