CUADERNOS DE LA HABANA


[ I ]

 

Am Flughafen José Martí. Schon bald nachdem ich kubanischen Boden betreten habe, und ein Schwall feuchtwarmer Luft meine Kleider durchnäßt hat, überkommt mich eine seltsame Erinnerung, ganz deutlich sehe ich dieses alte Foto vor mir, auf dem sich meine Eltern auf dem Malecón umarmen. Sie hatten sich gerade kennengelernt. Dies war vor über sechzig Jahren, und ich frage mich, warum ich so lange gebraucht habe, um nach Havanna zu kommen, in jene Stadt, die irgendwie immer ein Teil meines Lebens war. Jetzt kommt es mir so vor, als hätten wir aufeinander gewartet.

 

Stefan hatte mich seinerzeit in Venedig dazu überredet, mitzukommen und mich ganz unverbindlich seinem Aufnahmeteam anzuschließen, ohne eine spezielle Aufgabe übernehmen zu müssen, einfach nur zuschauen, zuhören, dabei sein. Die Reise wurde immer wieder verschoben, vermutlich weil es nicht so einfach ist, Tonaufnahmen in Kuba zu organisieren. Die anderen sind schon seit ein paar Tagen da, ich selbst habe mich erst in letzter Minute entschlossen, nachzukommen.

 

Raúl, einer der beiden Fahrer, die uns hier ständig begleiten werden, holt mich ab. Es dauert einige Zeit bis wir uns finden, denn er hat am falschen Ausgang auf mich gewartet. Raúl versteht mein Italienisch ähnlich schlecht wie ich sein Spanisch, trotzdem unterhalten wir uns während der ganzen Fahrt. Das Hostal Valencia in Habana Vieja wurde mir von Freunden empfohlen, ohne großen Luxus und vor allem ohne die typischen Touristen, die das Meliás oder das Hotel Nacional überfluten. Wir fahren in einem alten roten Moskvich, der wahrscheinlich mehrere hunderttausend Kilometer und unzählige provisorische Reparaturen auf dem Buckel hat. Abgase dringen ins Wageninnere, und man muß mit offenem Fenster fahren, um nicht zu ersticken. Die Luft von draußen ist allerdings auch nicht viel besser, verpestet von den tausenden von gerade noch fahrbaren Vehikeln, die alle in einem heruntergekommenen Zustand sind und unser Auto nahezu gut aussehen lassen. Raúl ist Ingenieur für Telekommunikation, aber als Chauffeur von ausländischen Touristen nimmt er wesentlich mehr ein. Er kassiert natürlich in Dollar und verdient auf diese Weise an einem Tag so viel wie ansonsten in einem ganzen Monat. Schon nach kurzer Zeit offenbart er seine ganze Lebensgeschichte, er redet über Politik, Fidel Castro, den Bärtigen, so nennt er ihn, während seine Fingern einen Bart an seiner Wange andeuten, über seine Frau und seine Töchter und vor allem über Autos. Seine Augen leuchten, wenn er ein gutes Fahrzeug sieht, ein seltener Anblick in dieser Stadt. Aber er fährt zufrieden seine alte Karre, jammert ab und zu und lächelt.

 

[ II ]

 

Raúl bringt mich zu einer geheimen Fiesta de Santería, wo ich die anderen treffe. In einem kleinen Zimmer schlagen zwei schwarze Trommeln, während die „versammelte Gemeinde“ immer wiederkehrende Melodien singt. Alle sind vollkommen in weiße Gewänder gehüllt. Plötzlich bittet der farbige Hauptsänger, Platz zu machen. Die Leute bilden einen Kreis, und eine Frau tritt auf und beginnt zu tanzen. Sie tanzt und dreht sich und läßt sich von den Rhythmen treiben, immer weiter treiben, bis sie in einen Trancezustand eintaucht, vielleicht ist ihr auch nur schwindelig, weil sie sich ununterbrochen dreht. Aber die Musik hat zweifellos etwas Hypnotisches. Und die Gesänge schwellen mehr und mehr an, alle kreisen nun um die Frau. Ihre Augen sind weit offen und starren ins Nichts. Schweiß rinnt über ihren Körper, der immer wieder von Schüttelkrämpfen durchzogen wird. Die Menge hört nicht auf, sie anzupeitschen, schließlich liegt sie feuchtnaß am Boden und windet sich vor ihren Anfeuerern. Verwirrt und befangen schaue ich diesem Treiben zu und frage mich, ob nun eine fremde Kraft in diese Frau eingedrungen ist. Doch wahrscheinlich kann ich diese wilden Exzesse, die aus einer mir vollkommen unbekannten Welt stammen, sowieso nicht verstehen.

Die Nacht endet mit einem Daiquiri im El Floridita und einem Abendessen im Le Monseigneur, einem Restaurant gegenüber dem Hotel Nacional, in dem der geniale „Bola de Nieve“ jahrelang aufgetreten ist. „Schneeball", welch treffender Spitzname für den kleinen Schwarzen mit seinem ballrunden Kopf! Meine Mutter hat ihn vergöttert und deshalb kann ich seine Lieder auswendig: "Laß nicht zu, daß ich dich vergesse", "Wenn ich dich gefunden habe", "Geh fort von mir" oder "Wenn du mich lieben könntest, oh Angebetete", jenes Lied von Margarita Lecuona, das keiner so gefühlvoll singen konnte wie er. Durch seine Lieder habe ich das wenige Spanisch gelernt, das ich kann. Dort drüben stand sein Klavier, nun ist er leider nicht mehr da, und ich denke an die vergange Zeit.

Ich gehe mir die Hände waschen, aber auf der Toilette gibt es - wie üblich in dieser Stadt - kein Wasser. Auf einem Hocker sitzt ein alter, sehr alter, spindeldürrer Mann mit einer Plastikflasche, in deren Deckel er kleine Löcher gebohrt hat. Er bietet an, mir Wasser über die Hände zu gießen, damit ich sie waschen kann. Danach setzt er sich wieder auf seinen Hocker neben der Toilette.

Nachts in meinem Zimmer schlage ich das Buch auf, das ich mir extra für diese Reise ausgesucht habe: Gedichte von José Martí, Freiheitskämpfer und Nationaldichter Kubas. Jede Nacht vor dem Schlafengehen will ich diesen Band aufs Geratewohl öffnen:

 

Alles stirbt

Um mich herum:

Ist es denn so, daß alles stirbt

Oder ist es so, daß ich sterbe?

 

[ III ]

 

Morgens in der Calle de Hamel, in Central Habana, einem ziemlich heruntergekommenen Viertel. Im Grunde genommen macht die ganze Stadt einen verfallenen Eindruck, aber nur an wenigen Plätzen spürt man die Vergänglichkeit so wie hier. Herrliche Häuser, buchstäblich zerfallen, Straßen, auf denen kein bißchen Asphalt mehr liegt. Wie nach einem Krieg. Doch der einzige Kampf besteht hier darin, den nächsten Tag zu erleben, sich einen weiteren Tag dem entsetzlichen Embargo der USA zu stellen; ein Verbrechen, das die restliche Welt feige und stillschweigend akzeptiert. In diesen Straßen spürt man das Elend noch viel mehr als in Habana Vieja, soweit ich das beurteilen kann. Doch es dürfte ziemlich schwierig sein, die Armut noch würdevoller zu ertragen als hier.

Wir kommen zu einer großen Fiesta. Musik ist hier die am weitesten verbreitete Therapie, um das Elend zu vergessen, um sich lebendig zu fühlen. Wie bei der Fiesta de Santería wirkt das Ganze sehr afrikanisch. Kleidung, Symbole, Frisuren, die Texte der Lieder, die allgegenwärtigen Conga-Trommeln ... Hunderte von Menschen zelebrieren die Musik mit größter körperlicher Hingabe, dicht gedrängt auf engstem Raum.

Zwei Polizisten nehmen einen jungen Schwarzen fest, der illegal Kassetten verkauft hat. Er wehrt sich, und es kommt zu einem blutigen Handgemenge. Alle schauen zu, und jemand ruft: "Sie werden ihn töten!" Doch niemand schreitet ein. Das ist der eiserne Griff des Systems: Alle wissen, sie werden beobachtet, nur so kann das Regime überleben. Und alle wissen, sie leben am Rande der Legalität, nur so können die Menschen hier überleben.

Sie stellen mir ein kleines Mädchen vor, Yudelkis ist sechs Jahre alt. Ich versuche mich mit ihr zu unterhalten, und ihre Eltern bieten mir mit der natürlichen Großzügigkeit der armen Leute ihren Rum an.

Obwohl hier die unterschiedlichsten Gruppen versammelt sind, machen alle afrokubanische Musik. Am Ende habe ich genug von diesem Menschenauflauf und ich beschließe, allein spazierenzugehen, einzutauchen in die tausend Gesichter von La Habana und zu zeichnen. Mit Stefan verabrede ich mich für den nächsten Tag im Centro Artístico Gallego, wo abends eine Aufnahme stattfinden soll. Nachts wieder José Martí:

 

Wie ein Raubtier im Käfig

Verlasse ich meinen Platz - stoße mich an meiner Umgebung,

Da die Tür, ich kehre zurück zu meinem Buch,

Mit aufgerissenen Augen klebe ich an seinen Buchstaben,

Wie eine angeschlagene Saite zittere und vibriere ich -,

Und es brüllt und es beißt die gequälte Seele

Wie gefangen in einem Körper aus Marmor.

 

[IV]

 

Im Centro Artístico Gallego in Habana Vieja hat das Orchester schon angefangen, einige Boleros und Sones zu spielen. Im Publikum sind viele ältere Leute, darunter einige Paare, die bestimmt schon die Achtzig überschritten haben, und wundervoll miteinander tanzen. Der Flötist , der vermutlich auch schon so alt ist, spielt voller Hingabe und so laut, daß ich mir manchmal die Ohren zuhalten muß. Wir befinden uns im ersten Stock, die Balkontüren stehen offen und warmes Abendlicht fällt herein. Die Atmosphäre ist angenehm entspannt. Keine Spur von Langeweile.

Mariko hat sich zu den anderen gesetzt und schreibt Briefe. Adrian ist mit einem Mikrophon hinuntergegangen, um die Stimmung auf der Straße einzufangen. Andrés und Stefan überwachen die Aufzeichnung. Luis und Günter trinken Mojitos. An verschiedenen Tischen spielen Männer in Vierergruppen Domino. Doch die meisten tanzen, und es macht unglaubliche Freude, ihnen zuzuschauen. Diese Lebenslust, diese besondere Gabe, Musik so zu genießen, habe ich noch nie erlebt. Die Bühne, auf der das Orquesta Sublime spielt, ist verwahrlost und schmutzig, und die Verstärkeranlage klingt grauenvoll, aber all diesen Widrigkeiten zu trotzen, ist notwendiger Volkssport.

Ich konzentriere mich auf einen sehr alten Herrn mit schneeweißem Haar. Er raucht Zigarre, und sein wilder, vollkommen jugendlich wirkender Tranzstil fasziniert mich. Als er sich setzt, spreche ich ihn einfach an. Er ist Spanier und stammt aus Málaga, und da er ein wenig Italienisch spricht, erfahre ich eine Geschichte, die ich kaum glauben kann, obwohl er mir schwört, daß sie wahr ist: Im Jahr 1941 war er mit seiner Frau und einem befreundeten Paar irgendwo in Málaga beim Essen. Danach wollten er und sein Freund noch eine Runde drehen, und so verließen sie die beiden Frauen und kamen irgendwann zum Hafen von Málaga. Sie näherten sich einem Schiff, und ein Matrose erzählt, dieses Schiff würde gleich nach Kuba auslaufen. Sie gingen an Bord, ohne jemandem Bescheid zu sagen und blieben drei Jahre in Kuba. Als er wieder nach Spanien zurückkehrte, wollte seine Frau nichts mehr von ihm wissen, sie hat nicht auf ihn gewartet. Da heuerte er auf einem anderen Schiff an und fuhr jahrelang zur See. Später kehrte er nach Kuba zurück und marschierte 1959 nach dem Sturz von Batista als einer der Bärtigen an Fidel Castros Seite triumphierend in Havanna ein. Er fühlt sich als Kubaner und würde die Revolution und Fidel mit Leib und Leben verteidigen. Allerdings gefällt ihm, wie so vielen anderen, die momentane Situation überhaupt nicht. Hier spricht man vom einer Art „Ausnahmezustand“ nach dem Wegfall der Hilfe der ehemaligen europäischen Kommunisten-Regime.

 

Juan, so nennt er sich, kommt fast täglich hierher um zu tanzen, Domino zu spielen und ein bißchen von Spanien zu träumen. Hier nennt man alle Spanier gallegos, "Galicier", und Juan erzählt mir, daß hier ihr üblicher Treffpunkt ist.

Adrian wurde am Abend von einem Kind sein Fotoapparat gestohlen, und wir müssen warten, bis er mit Noel und Luis, dem Übersetzer, von der Polizeiwache zurückkommt. Luis erzählt Dinge von der Polizeiwache, die ich wirklich kaum glauben kann. Die zweite unglaubliche Geschichte an diesem Tag. Nach einem späten Imbiß im Café Mercurio schlendere ich zum Hostal Valencia zurück, wo José Martí mich erwartet:

 

Nimm mir nicht die grauen Haare,

Denn sie sind meine Würde.

Jedes Haar ist der Nachlaß eines Schicksalsschlags,

Der passiert ist, ohne meinen Geist zu brechen.

Küsse meine grauen Haare, mein Kind,

Denn sie sind meine Würde.

 

[ V ]

 

Obwohl ich mich im Valencia sehr wohlfühle, ziehe ich nach Nuevo Vedado um, in jenes Viertel, in dem das Aufnahmeteam wohnt. Noel besorgt mir ein Zimmer im Haus der sechzigjährigen Milaida. Sie lebt mit ihrer siebenundachtzigjährigen Mutter zusammen, die ihre Tage damit verbringt, sich selbst beim Kartenspielen zu beschummeln und heimlich zu rauchen.

Zimmer zu vermieten ist jetzt legal, aber mit viel bürokratischem Aufwand verbunden. Und unabhängig davon, ob man vermietet hat oder nicht, muß man horrende Steuern bezahlen. Selbstverständlich in Dollar.

Milaida erzählt mir von früheren Gästen, die mehr oder weniger offensichtlich als Sex-Touristen hierherkamen. Sie sagt, sie wolle keine Huren in ihrem Haus, aber sie erklärt mir auch, daß nicht alle Frauen, die mit Ausländern ausgehen, Huren oder Nutten seien. Sie erzählt mir von Freundinnen, jungen Mädchen mit ehrbaren Berufen wie Krankenschwester oder Verkäuferin. Berufstätige, die keine andere Möglichkeit haben, Dollars zu verdienen und ihre Kinder großzuziehen, als mit Ausländern auszugehen. Sie gibt mir zu verstehen, daß sie ganz schnell einen Kontakt herstellen kann, wenn ich jemanden kennenlernen wolle. Aber nur eine, betont sie, mit zweien gleichzeitig, das empfindet sie als Pornographie. Erstaunlich, wie offen sie nach so kurzer Zeit schon mit mir redet. Vielleicht sind die menschlichen Beziehungen hier alle nur sehr flüchtig.

Auf dem Weg zu einer Aufnahme in Central Habana, sehen wir eines der ehemalig herrschaftlichen Häuser, nun ist es völlig verwahrlost, es hat seit Jahrzehnten keine Farbe mehr gesehen, mutet aber im Vergleich zu unserem nächsten Ziel geradezu luxuriös an, ein Haus im Zentrum Havannas in der Calle Animas, in der bereits vieles zusammengestürzt ist. Die Zeit spielt hier mit den Häusern und den Menschen, und alles scheint sich in einem sonderbaren Gleichgewicht zu halten. Niemand entfernt die heruntergefallenen Mauerbrocken. Niemand scheint sich hier um die Kinder zu kümmern, die barfuß und zerlumpt zwischen den Ruinen spielen. Armut pur. In dem Haus, das wir betreten, steht ein Kochtopf auf dem Herd, darin brodelt etwas mit undefinierbarem Gestank. In einer Ecke ist am Boden ein kleiner, sonderbarer Altar mit Stöcken, Rum, Steinen, Gläsern, eigenartigen Phallussymbolen und allen möglichen Gegenständen.

Eine alte Frau bittet uns davor niederzuknien, etwas zu küssen und für unsere Gesundheit oder für das Wohl unserer Mütter zu beten. In einer anderen Ecke das berühmte Portrait des Nationalhelden Che Guevara. Auch in den Innenräumen nichts als Verfall, aber vermutlich sieht es schon seit Jahren so aus. Ich setze mich auf eine enge, wackelige Treppe, oben ist wahrscheinlich das Schlafzimmer, und ich ahne, wie kläglich und schmutzig es dort sein mag.

Ein ständiges Kommen und Gehen, alle sehen zufrieden aus, schütteln mir die Hand, lächeln mich an und reden so schnell mit mir, daß ich kaum ein Wort verstehe. Ich nutze die Zeit zum Zeichnen, erst drinnen, dann auf der Straße, wo spontan eine große Fiesta mit Conga-Trommeln und afrokubanischen Gesängen organisiert wird.

Die Menschen nehmen den Lärm auf der Straße hin, als wäre es das normalste auf der Welt. Tatsächlich bin ich selbst am Morgen in Milaidas Haus von Musik auf der Straße erwacht. Niemand beschwert sich, und die Polizisten, die ständig durch die Straßen patroullieren, sehen ganz gelassen zu.

Fahrräder und unbeschreibliche Gefährte kommen vorbei, wie aus einer anderen Zeit. In einem der Geschäfte für Kubaner, die fast immer geschlossen sind oder einfach nur leere Regale haben, lese ich ein Schild: "Achtung: Die Milch muß morgens abgeholt werden, da der Kühlschrank kaputt ist. Schlechtgewordene Milch wird nicht ersetzt." Raúl erklärt mir, daß nur Kinder bis zum siebten Lebensjahr Anrecht auf Milch haben. Ansonsten muß auch die Milch in Dollar bezahlt werden, und die sind schwer zu beschaffen. Obwohl die meisten immer ein paar in der Tasche haben.

 

Während der Fiesta, die Noel und Günter noch mit einigen Flaschen Rum in Schwung gebracht haben, kommt ein Schwarzer auf mich zu. Er will, daß ich ihn zu seinem Santería-Altar begleite, wo jemand mir die Zukunft vorhersagen wird, oder, wenn ich möchte, die Vergangenheit. Ich antworte ihm, daß ich mehr an meiner Vergangenheit interessiert sei. Er lacht und bleibt bei mir stehen, raucht und trinkt aus den Rumflaschen, die ständig kreisen. Kurz darauf erscheint sein persönlicher Guru, und voller Stolz stellt er ihn mir vor. Ständige Spuren seiner afrikanischen Wurzeln. Nach der Aufnahme gibt er mir seine Adresse und Telefonnummer. Er besteht auf einem Wiedersehen. Es ist zu deinem Besten, sagt er voller Überzeugung.

 

Abends nehmen wir eine Gruppe im Café O´Reilly auf, die unter anderem Chan Chan von Compay Segundo singt. Die Hymne der Wiedergeburt kubanischer Musik außerhalb der Insel. Fidel, der Congaspieler, erzählt mir, es sei ein sehr altes Lied, das schon völlig in Vergessenheit geraten war, genauso wie jene achtzigjährigen Musiker, die jetzt in Europa und in den USA für Furore sorgen. Auf einmal sind sie reich und berühmt. Jahrzehntelang haben sie in Kuba für Pfennige gespielt, und jetzt schlagen sie sich mit Exklusivverträgen multinationaler Plattenfirmen herum.

 

Allein gehe ich später zur Plaza de Armas, wo einige Buchhändler Antiquarisches feilbieten. Ich habe mir einen Gedichtband von Nicolas Guillén gekauft, noch eine literarische Herrlichkeit Kubas. Obwohl ich ihn spät abends noch durchblättere, bleibe ich doch José Martí treu.

Wie ein Dolch aus gehärtetem Stahl

Dringt dieses Lied in mein Innerstes.

 

[ VI ]

 

Gespräch mit Milaida, die total begeistert von den Illustrierten ist, die ich ihr mitgebracht habe. Sie sammelt sie in allen Sprachen, auch wenn sie kein einziges Wort versteht. Am liebsten ist ihr die spanische Regenbogenpresse, und sie kennt all die Prominenten, die dort ihre Häuser und ihre neuen Affären präsentieren.

Als ich durch das Viertel spaziere, werde erneut Zeuge einer seltsamen Szene, ein alter Mann sitzt im Schaukelstuhl, und eine Frau schreit ihm an, er solle endlich etwas tun oder abhaun. Der Alte rührt sich nicht, sagt, er könne nicht, da er zuviel zu tun habe. Wie er so etwas sagen könne, er sitze doch nur den ganzen Tag da und tue nichts. "Ich muß viel nachdenken", antwortet er.

Im Haus von Stefan und Mariko. Während Adrian die Aufnahme eines Duetts vorbereitet, unterhalte ich mich mit den Hauswirten Manolo und Eloína, beide gastfreundlich und aufgeschlossen. Manolo zeigt mir stolz seinen 51er Opel, ein gut konserviertes Schmuckstück. Manolo war zweiundvierzig Jahre lang Kassierer bei einer Bank und erhält eine Rente, die ungefähr fünfzehn Dollar im Monat entspricht. Ein Chirurg verdient im Monat etwa fünfundzwanzig Dollar. Manolo und Eloína vermieten Zimmer, wie viele Leute in Nuevo Vedado. Kontrollbeamte überprüfen regelmäßig, ob alles in Ordnung ist oder ob jemand mehr Zimmer vermietet als angegeben.

 

Unterwegs zum Haus von Alicia, der Freundin von Noel. Während der Fahrt komme ich wieder auf meine Lieblingsbeschäftigung dieser Tage zurück: Raúl nach Marken und Modellen all der alten amerikanischen Autos zu fragen, die hier zu sehen sind. Ein 53er Chevrolet, ein 49er Buick, ein 56er Cadillac, ein 58er Ford. Raúl antwortet mit blinder Sicherheit und erklärt mir genau, welche Umrüstungen die jeweiligen Besitzer daran vorgenommen haben. Von manchen Modellen weiß er sogar, wieviele es davon in der ganzen Stadt gibt. Echte Raritäten erkennt er schon von weitem. Alle stammen natürlich aus der Zeit vor der Revolution. Vor oder nach 1959, so lautet die aktuelle Zeitrechnung in Kuba. Raúl hat einen Bruder, der in Miami lebt. Er selbst hegt ebenfalls Pläne, dorthin zu ziehen. In Kuba, meint er, gebe es für seine Töchter keine Zukunft. Als ich ihm erzähle, daß er dort anstelle seines alten, verbeulten Moskvich ein richtiges Auto fahren könne, leuchten seine Augen. Raúl steht dem System äußerst kritisch gegenüber. Er sagt: "Stell dir vor, ich trage dir vierzig Jahre lang dasselbe Gedicht vor und frage dich dann, ob es dir gefällt." Das Regime gebe nichts mehr her, es sei an sich selbst erstickt. Dennoch wird Fidel von Raúl ebenso wie von allen anderen hier respektiert und in gewisser Weise sogar bewundert. Im Auto erzählt er Witze von einem kubanischen Komiker, der in Miami im Exil lebt. Leider verstehe ich so gut wie nichts. Ich frage ihn, ob er denn glaube, daß die Kubaner in Miami die Insel schon unter sich aufgeteilt hätten, um sie nach

dem Ableben von Fidel Castro zu kaufen. Raúl verschränkt die Arme. Daß Fidel sterben könnte, kommt ihm utopisch vor. Niemand redet hier ernsthaft über dieses Thema.

Bei Alicia zuhause gibt es zeitweise keinen Strom mehr, und auch die Wasserversorgung ist unterbrochen. Zuerst nehmen wir ihren Kinderchor auf, den sie mit Gesten und Grimassen dirigiert, die die Kinder begeistert nachahmen. Danach wird spontan eine soirée mit ihrem Vater improvisiert. Andrés ist ein berühmter Pianist, der am Tschaikowsky-Konservatorium in Moskau studiert und einige Alben veröffentlicht hat. Er ist ein Freund von Arturo Sandoval, mit dem er viel zusammen gespielt hat. Er möchte nicht aus Kuba weg, obwohl er - wie fast alle - nur das Nötigste hat und unter Bedingungen lebt, die in völligem Gegensatz zu seinem Talent stehen. Erst am Abend bei Kerzenschein läßt sich Andrés überreden, ein spezielles Pianowerk des kubanische Komponisten Saumell aufzunehmen. Nachts fange ich an, Nicolas Guillén zu lesen:

 

Du, der du Kuba vergessen hast,

Antworte, du,

Wo wirst du grün an grün finden?

Blau an blau

Palme an Palme unter dem Himmel?

Antworte, du,

Der du deine Sprache vergessen hast,

Antworte, du,

Und in fremder Sprache kaust

Das well und das you,

Wie kannst Du stumm bleiben?

Antworte, du.

 

[ VII ]

 

Aufzeichnung im Museo de la Música. Osmani, der dort die Instrumente wartet, ist dabei, verschiedene Pianolas zum Klingen zu bringen. Stefan ist überzeugt davon, daß von Kuba in musikalischer Hinsicht wesentliche Impulse ausgingen, die bis in die USA gelangten. Wir bitten Osmani, ausschließlich alte Musikrollen vom Anfang des Jahrhunderts zu benutzen. Obwohl er Probleme macht und etwas von offiziellen Genehmigungen murmelt, unsere Hartneckigkeit und unsere Dollars regeln schließlich alles.

Gespräch mit Noel über Politik. Er sieht die Lage optimistischer als Raúl. Langsam aber sicher, meint er, würden sich die Dinge ändern. Was er beklagt ist die Tatsache, daß man hier selbst mit viel Geld nichts anfangen kann. Es gebe Leute, die immer mehr Dollars anhäufen würden, und das sei gefährlich. Deshalb werde es wahrscheinlich bald erlaubt sein, Autos oder Wohnungen zu kaufen. Vor kurzem sei sogar der Besitz von Dollars noch strafbar gewesen, und jetzt sehe man auf der Straße keine andere Währung mehr. Ganz fatal sei das Wohnungsproblem. Es würden keine neuen Häuser gebaut, und den Jungen bleibe nichts anderes übrig, als nach der Hochzeit weiterhin bei den Eltern zu leben. Milaida erzählt mir, es sei jetzt gang und gäbe, daß junge Leute sich um ältere Menschen kümmern, auch wenn sie diese gar nicht kennen. Die Jungen leben bei den Alten, ohne etwas zu bezahlen oder zu verlangen, allerdings in der Hoffnung, nach dem Tod der Alten in deren Haus bleiben zu können. Eine neue Offenbarung der Geduld. Warten ist hier ein Volkssport. Alle warten darauf, daß etwas passiert, was aber wohl nie der Fall sein wird. Sie warten, ohne etwas zu erwarten. Die Zeit vergeht langsam, und das, glaube ich, hilft. Wir haben selbst den ganzen Abend auf Frank Emilio, einen blinden Pianisten, im Club Imágenes gewartet. Wir verschieben die Aufzeichnung auf morgen.

 

Am Abend in der Casa de la Trova, einem kleinen Lokal in San Lázaro, wo der Putz schon völlig von den Wänden gebröckelt ist. Eine Gruppe von Frauen mit kleinen Kindern lauscht einem alten Mann, der Boleros singt. Später schließt sich ihm eine junge Frau an, mit einer noch vollkommen unverdorbenen Stimme. Manchmal singt sie vielleicht ein bißchen unsauber, aber in Kombination mit dem Gitarristen einfach außergewöhnlich. Günter und Luis bringen Rum unter die Leute, die schnell warm werden und zu tanzen anfangen. Eine Frau versucht sich auszuziehen. Luis kann sie gerade noch davon überzeugen, daß das nicht nötig ist. Sie sehe auch angezogen sehr attraktiv aus. In Wirklichkeit hat sie einen von Kindheit an deformierten Körper, und die Armut steht ihr ins Gesicht geschrieben. "Die Männer verfolgen mich!" schreit sie, schon ein bißchen beschwipst. Die Atmosphäre ist fantastisch, und der Alkohol hat auch auf uns ein wunderbare Wirkung.

 

Abendessen im La Guarida in der Calle Concordia, hier wurde der Film "Erdbeeren und Schokolade" gedreht. Ein unglaubliches Haus, das zu seiner Zeit sehr luxuriös gewesen sein muß: große Ballustraden, riesige Räume, hohe Wände. Jetzt ist es beinahe eine Ruine, aber das Essen hier ist hervorragend. Nach Hause zu José Martí, dessen Konterfei und dessen Worte in den Straßen von Havanna allgegenwärtig sind. Gestern bin ich zufällig an seinem Geburtshaus vorbeispaziert, heute lese ich diese Zeilen aus „Guantanamera“:

 

Ich bin ein aufrichtiger Mensch

Mit friedlichen Absichten

Und bevor ich sterbe, möchte ich

Die Verse aus meiner Seele vertreiben.

Ich komme von überall her

Und ich gehe überall hin,

Kunst bin ich zwischen den Künsten

Und zwischen den Bergen bin ich ein Berg.

Ich verberge in meiner tapferen Brust

Den Schmerz, den es mir bereitet,

Der Sohn eines Sklavenvolkes zu sein,

Dafür zu leben, zu schweigen und zu sterben.

 

 

 

[ VIII ]

 

Nehme mir den Tag frei, um auszuruhen, zu lesen, zu zeichnen und spazierenzugehen.

 

Abends treffe ich die anderen im Miramar, wo Andrés endlich die Contradanzas von Saumell spielt. Frank Emilio, der blinde Pianist, wird Jazz und kubanische Musik von den Anfängen des Jahrhunderts spielen, jene Musik, an der Stefan so interessiert ist.

Nach dem Essen ein ausgedehnter Spaziergang. Ich hebe den Blick, wenn ich jemanden italienisch reden höre. Es sind fast immer arrogante Italiener aus dem Süden, die ihre Begleiterinnen - in der Regel blutjunge Mulattinnen - wie Jagdtrophäen zur Schau stellen.

 

Nach Mitternacht Abendessen im Gato Tuerto, danach begleite ich Günter, Adrian und Luis in einen Laden namens Casa de la Música. Raúl fährt uns hin. Als wir aus dem Auto steigen, stürmt ein Dutzend Mädchen auf uns zu, nicht unbedingt jene wohlerzogenen, berufstätigen Mädchen, von denen uns Manolo und Malaida erzählt haben, aber alle noch sehr jung und schwarz oder Mulattinnen. Jeder von uns solle sich diejenige aussuchen, die ihm am besten gefalle, fordern sie uns ganz ungeniert auf. Denn alleine kommen sie in den Laden nicht rein, und wir sollen ihnen den Eintritt von zehn Dollar zahlen. Luis ist der Übersetzer, aber sie trauen ihm nicht, zumal er beschließt, allein hineinzugehen. Günter entscheidet sich spontan für ein Mädchen in einem roten Kleid. Yamillet, so heißt sie, ergreift seinen Arm und läßt ihn nicht mehr los, bis wir drin sind.

Wir trinken Mojitos und tanzen, und ganz unversehens hat jeder von uns ein Mädchen an seiner Seite. Meine heißt Lisdeivis. Den Namen wiederholt sie so lange, bis ich ihn verstanden habe. Sie ist sehr groß, trägt ein schwarzes Kleid, und es scheint sie kein bißchen zu stören, daß ich über dreißig Jahre älter bin als sie. Sie berührt mich. Und führt ihren Arm an meinen Mund und fragt mich, ob mir ihre Haut gefällt. Die Männer seien verrückt danach. Ich frage, was sie arbeitet, und sie erklärt, sie mache eine kaufmännische Ausbildung. Ich denke, was für eine Art kaufmännischer Ausbildung man wohl in einem kommunistischen Land lernen kann. „Ich bin keine Hure, eh", fährt sie mich an, obwohl ich so etwas nicht einmal angedeutet habe.

Sie fragt mich nach Italien und erzählt mir von italienischen Freunden, zweifellos Touristen, mit denen sie unlängst das Bett geteilt hat. Die Stunden vergehen mit Mojitos, Tanz und Gelächter und beim Verlassen dröhnt mir der Kopf und ich bin fast taub.

Die Nacht endet frühmorgens auf der Terrasse des Hauses, in dem Adrian und Günter wohnen. Wir trinken Bier, das wir bei El Rápido gekauft haben, einer Bar, die die ganze Nacht geöffnet hat. Von der Terrasse aus sehen wir Humberto, einen alten Rentner, dem die Nachbarn Geld geben, damit er nachts ihre Häuser bewacht. Manchmal macht er seine Taschenlampe an, um auf sich aufmerksam zu machen, aber gegen organisierte Banden könnte er wahrscheinlich wenig ausrichten.

Unerwartet kommt einer dieser karibischen Stürme auf, heftig, intensiv und schnell wieder vorbei. Kaum hört es auf zu regnen, taucht Humberto

mit seiner Lampe wieder auf. Er wartet ebenfalls die ganze Nacht, sicher, daß nichts passieren wird. Ich gehe runter und bringe ihm eine Flasche Bier. Er dankt mir überschwenglich. Gerne würde ich besser spanisch sprechen und ihn auf seiner nächtlichen Runde begleiten, ihn nach seinem Leben fragen, danach, was er denkt, wenn er stundenlang und Nacht für Nacht mit seiner Laterne wartet. Sein strahlendes Lächeln nehme ich als Andenken mit. Er ist es nicht gewohnt, daß ihm einfach jemand etwas schenkt.

Halbtot vor Müdigkeit öffne ich in meinem Zimmer die letzte Seite von Nicolas Guillén:

 

Die Zeit vergeht leise

Mit dem nächtlichen Strom,

Und sie sieht meine trübsinnige Stirn,

Und sie sieht meine ruhelose Brust.

In dieser leisen Zeit

Versenke ich meine Stimme im nächtlichen Strom:

Ich mache mir trübsinnige Gedanken.

Erhole meine ruhelose Brust.

Bewache meinen Schmerz in den Schmerzen.

Bewache meine Seele in den Seelen.

Bewache meine Stimme wie ein Schwert.

Ich habe nichts mehr und will nichts mehr.

Ich suche nichts mehr und ich erwarte nichts mehr.

Nichts.

 

[ IX ]

 

Morgens in Raúls Viertel, in la Vibora, um ein Trio aufzunehmen, von dem Stefan schon viel gehört hat. Alle drei sind Dozenten im Centro de Superación para la Cultura, einem wunderschönen Gebäude, das ein bißchen weniger heruntergekommen ist als üblich. Es ist ein altes Haus im spanischen Kolonialstil mit Keramiken, auf denen Don Quijote Geschichten abgebildet sind. Adrian stellt die Mikrophone in einer Halle auf, deren muslimische Ornamente mich an die Alhambra von Granada erinnern. Wieder einmal bin ich erstaunt über die Anmut, mit der auch die drei Musiker, Hermes, René und Diego, die Entbehrung der notwendigsten Dinge ertragen. Auch hier gibt es kein Wasser. Die drei spielen und singen wundervoll. Wie so viele andere Musiker in diesen Tagen. Stefan schenkt ihnen Gitarrensaiten, wie schon so vielen Musikern hier in Havannna und sie danken es mit einer Anmut, die ich nicht gewohnt bin.

Vom Auto aus sehen wir Diego mit seiner Gitarre die Straße hinuntergehen. Wieviele Kilometer er wohl mit seiner Gitarre laufen muß, bis er zuhause ist? Ein Auto ist hier ein Luxus, den sich nur wenige leisten können: möglicherweise Staatsmänner oder Arbeiter, die es zu einer Zeit gekauft haben, als es noch russische, tschechische oder polnische Autos gab. Die öffentlichen Verkehrsmittel sind katastrophal. Lange Schlangen stehen an den Bushaltestellen. Viele stellen sich an die Ampeln und versuchen die Autofahrer zu überreden, sie ein Stück mitzunehmen. Aber das gelingt höchstens ein paar Mädchen. Das populärste Verkehrsmittel wird hier seiner Form wegen "Camel" genannt. Dabei handelt es sich um große Lastwägen, in denen auf engstem Raum hunderte von Menschen befördert werden. Ich sehe auch Autobusse aus allen möglichen anderen Ländern: Rom, Amsterdam, Madrid, Berlin. Was man in diesen Städten verschrotten würde, benutzt man hier noch jahrelang, immer mit der Zeit als engstem Verbündeten. Diego, der außergewöhnlicher Gitarrist mit einer weichen Stimme und einem fundierten musikalischen Wissen, könnte fast überall gut leben. In Havanna ist er einer von vielen guten Musikern, und nachdem er für uns fast zwei Stunden gesungen und gespielt hat, bleibt ihm nichts anderes übrig, als zu Fuß zu gehen.

 

Abends eine Aufzeichnung in La Madriguera, in der Quinta de Los Molinos, einer riesigen Finca im Zentrum von Havanna, mit tausenden von Palmen und tropischen Bäumen. Die Auftritte werden auf einem kleinen zementierten Platz stattfinden, neben einem bescheidenen Gebäude, das als Kuturzentrum fungiert. Noel hat uns mit diesen Musikern hier zusammengebracht, den er möchte, daß wir auch die jungen, innovativen Gruppen Kubas kennenzulernen, die versuchen, die traditionelle kubanische Musik zu überwinden.

Es gibt kaum Stühle, und wir müssen uns auf den Boden setzen. Die erste Band besteht aus einem Trio, einem Weißen, einem Schwarzen und einem Mischling. Sie klingen wie eine Mischung aus der Nueva Trova Cubana und brasilianischen Sängern wie Caetano Veloso oder Gilberto Gil. Als ich später einen der Musiker beglückwünsche, dankt er es mir ganz euphorisch, wie das hier üblich ist. Ein Duo, das aus einem Schwarzen und einem Mulatten besteht, besitzt außer guten Stimmen auch noch einen außergewöhnlichen Sinn für Humor: Die beiden tanzen, imitieren Instrumente, improvisieren und bringen ihren afrikanischen Akzent ein, und Sie ziehen das Publikum sofort in ihren Bann. In der Pause ein Gespräch mit Alicia, die ungebrochene Lebensfreude ausstrahlt. Sie gesteht, daß sie gern in viele Länder reisen würde, obwohl sie weiß, daß das unmöglich ist, solange sich nichts ändert. Sie ist Kubanerin und hat nicht vor, das Land zu verlassen, ebensowenig wie ihre Eltern. Sie will hierbleiben, und wie Noel gefällt ihr die Vorstellung, daß sich die Dinge langsam aber sicher ändern.

 

Nachts wieder in la Vibora, diesmal, weil Raúl uns zu einer Paella in sein Haus eingeladen hat. Endlich lerne ich seine Frau und seine Töchter kennen, von denen er mir schon so viel erzählt hat. Das Essen ist köstlich und reichlich. Welch merkwürdiges Verhältnis zwischen uns und unseren Gastgebern: Sie geben uns viel mehr, als sie sich eigentlich leisten können, und sie nehmen unsere bloße Anwesenheit an wie ein Geschenk. Ihre Großzügigkeit und ihre Kunst zu leben kommen mir vor wie ein Wunder. Ich verabschiede mich von diesem Tag und widme den Rest der Nacht José Martí.

 

Kuba vereint uns auf fremdem Boden,

Unsere Liebe lechzt nach kubanischer Luft:

Kuba ist dein Herz, Kuba ist mein Himmel,

Kuba sei mein Wort in deinem Buch.

 

[ X ]

 

Milaida schenkt mir ein paar verfallene Bezugsscheinheftchen für Lebensmittel. Wie wenig man für kubanische Pesos kaufen kann! Dabei ist alles von mindester Qualität, wie das Brot, das mir Milaida eines Morgens zum Probieren gibt. Die Läden sind in der Regel leer, deshalb muß man beinahe jeden Tag losziehen, nur um das Allernötigste zu organisieren. Fast wie nach dem Krieg! Milaida erzählt mir, daß sie von ihrem Gehalt in den achtziger Jahren noch gut leben konnte, doch seit dem Zerfall des Kommunismus in Europa hat sich ihr Lebensstandard auf alarmierende Weise verschlechtert. Sie kann zwar, wie viele Leute in ihrem Viertel, mit Dollars bezahlen, aber die meisten müssen sich mit den staatlichen Zuwendungen und den rationierten Lebensmittelkarten über Wasser halten, was von außen betrachtet fast unmöglich erscheint.

 

Vormittags in Bejucal, einem kleinen Dorf etwa eine Autostunde von Havanna entfernt. Im Innenhof des Museo Municipal spielen für uns die Tambores de Bejucal, eine Band aus zwanzig Bauern, die Blas- und Percussion-Instrumente spielen, Trompeten und Posaunen, Bongos und Glocken aller Art. Auch drei Sänger sind dabei. Robelio dirigiert, ein lustiger Typ mit einer weißen Baseballmütze, der seine Musiker mit einer merkwürdigen Mischung aus Humor und Strenge führt. Unglaublich, wie sich die Menschen verändern, wenn sie anfangen zu spielen: Ihre Gesichter fangen an zu strahlen, sie lächeln, zwinkern sich ständig zu und sehen richtig glücklich aus. Dabei braucht man nicht viel Phantasie, um sich die Härte ihres alltäglichen Überlebenskampfes vorzustellen. Der Blumen geschmückte Innenhof mit Arkadengängen ist eine kleine Oase, und das Gebäude, in dem das Museo Municipal untergebracht ist, stammt aus dem 18. Jahrhundert. Raúl kauft Rum, Luis verteilt Kugelschreiber, Stefan Platten, Zigarren und Hefte. Innerhalb von wenigen Minuten entsteht eine richtig angenehme Atmosphäre. Sie spielen Rumbas, Yorubas und Karnevalsmusik. Mit ihren Gesängen, Rhthmen und Tänzen erreicht die Stimmung ihren Höhepunkt.

Als wir gerade gehen wollen, taucht ein alter Mann auf, wahrscheinlich angelockt von der Musik. Er ist schon ein bißchen betrunken und fängt an, mit Robelio alte Boleros zu singen. Aber sie singen nicht mehr für uns, so kommt es mir vor, sondern nur für sich selbst, wie fast alle Kubaner, vielleicht, um ihre Hoffnung aufleben zu lassen.

 

Abends zum ersten Mal im Hotel Nacional. Hier haben sich meine Eltern kennengelernt. Wir gehen in den Gärten umher, von denen aus man den Malecón und Habana Vieja sehen kann. Wir trinken Mojitos, und ich überlege mir, ob ich nicht noch ein paar Tage oder sogar einige Monate hierbleiben soll. Nichts und niemand erwartet mich, dennoch beschließe ich, nach Hause zu fahren, beladen mit Zeichnungen, Erinnerungen, Gesichtern und all der wundervollen Musik, die ich in diesen Tagen gehört habe. Ich betrachte alte Photos, die in einigen Räumen des Hotels hängen, und auf einmal habe ich wieder das Bild von meinen Eltern vor Augen, wie sie sich an der Hafenpromenade von Havanna lachend umarmen, und mich überkommt das Gefühl, daß ich nun ebenso mit dieser Stadt verbunden bin wie sie. Ich werde sicherlich zurückkommen. Und ich frage mich, ob dann alle immer noch warten wie bisher, ob sie weiterhin mit ungebrochenem Stolz gegen ihr Schicksal ankämpfen, während ihnen das Embargo immer mehr die Luft abschnürt. Nicolas Guillén singt mir in dieser Nacht ein letztes Lebewohl:

 

Martí hat es dir versprochen

und Fidel hat es gehalten;

Ach Kuba, jetzt ist es vorbei,

Es ist hier für immer vorbei,

Es ist vorbei,

Ach Kuba, ja, ja

es ist vorbei,

Die Lederpeitsche,

mit der der Yankee dich geschlagen hat.

Es ist vorbei.

Martí hat es dir versprochen

und Fidel hat es gehalten.

Es ist vorbei.

Ach, meine hübsche Flagge,

Meine kleine kubanische Fahne,

Ohne dich zu verbannen,

ohne daß irgendein Gauner kommt

um in Havanna auf sie zu schießen!

Es ist vorbei.

Ich habe es gesehen.

Martí hat es dir versprochen

und Fidel hat es gehalten.

Es ist vorbei.

 

Mario Luis Malfatti, Januar 1999

 

 

 

Mario Luis Malfatti, geboren 1947 in Triest, als einziger Sohn einer angesehenen Industriellenfamilie. 1968 Abbruch des Jurastudiums in Bologna, um sich ausschließlich seinen großen Leidenschaften der Schriftstellerei und Malerei zu widmen. 1970 erste Veröffentlichung von gesammelten Kurzgeschichten unter dem Titel „Traverse“ (Seitenstraßen), die jedoch nur geringe Beachtung finden. 1972 begeht sein Vater, Luis Massimo Malfatti, Selbstmord nach seiner Verhaftung wegen Steuerhinterziehung. Diese Familientragödie, die drei Jahre später auch zum Tod seiner Mutter führt, ermöglicht Malfatti jedoch die wirtschaftliche Unabhängigkeit, ein Leben in vollkommener Abgeschiedenheit zu führen. Seine Romane „Passi perduti“ (Verlorene Schritte) und „L’ultimo paradiso“ (Das letzte Paradies) finden keinen Verleger, und Malfatti widmet sich nur noch der Malerei, angeregt von seinem großen Vorbild Günter Grass.

 

Übersetzung: Susanne Rick & Susen Kramer

 


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