The Sidewalks of New York – Tin Pan Alley


Es gibt sie wirklich, die Tin Pan Alley, entstanden nach dem Bürgerkrieg in einem Teil der 28. Straße Manhattans, zwischen der Fifth Avenue und dem Broadway, später berühmt als die Straße der Lieder. Tin Pan Alley erreicht bald die Saloons und Variétés der Bowery, sowie die Theater des Broadways und streckt sich schließlich weit über die Grenzen von New York City hinaus. Sie ist im industriellen wie auch im geografischen Sinne der Beginn der Popmusik und Wegbereiter für den Erfolg des Rundfunks und der Schallplatte, während sie musikalisch die Welt des amerikanischen Fin de Siècle reflektiert.

Geld, viel Geld ist nun im Spiel, das man aus dem Verkauf von Notenblättern herausholen kann, in deren Besitz zu sein heißt, neue Songs unters Volk bringen zu können. Die Kreativität und die Geschäftstüchtigkeit der (Schleich-)Werber für Musikstücke, die ein Ohr für Melodien und ein Gespür für den Verkauf haben, läßt die Tin Pan Alley aufblühen. In diesem Sinne ist der Komponist Charles K. Harris aus Milwaukee ein Urvater der Musikhändler, der 1885 zum eigenen Verleger wird und kurz danach ein Lied ans Fenster seines Geschäfts hängt, das jeder bestellen und kaufen kann. Der größte Hit Harris' "After The Ball" erreicht aber das breite Publikums erst, als der Komponist den berühmten Entertainer J. Aldrich Libbey für 500 Dollar engagiert und ihn an den Tantiemen beteiligt, um so 1892 das Lied in der Produktion "A Trip to Chinatown" aufführen zu können. Als "After the Ball" bald ein Schlager wird, schlägt Harris das Angebot von 10.000 Dollar für die gesamten Urheberrechte aus – ein weitsichtiger Entschluß, angesichts der fünf Millionen Notenblätter, die das Lied letztendlich verkauft.

Doch der Erfolg der Tin Pan Alley ist nicht immer garantiert. Der Bruder des Autoren Theodore Dreiser, Paul Dresser – "Haus-und Hofkomponist" New Yorks – spürt die möglichen Vorteile eines eigenes Verlagshauses. Dresser macht und verliert ein Vermögen, noch bevor er "My Gal Sal" schreibt. Er lebt aber nicht lange genug, um von dessen Erfolg profitieren zu können, später wird "My Gal Sal" der Titelsong seiner eigenen Filmbiographie. Nachdem "I Wonder Who's Kissing Her Now" Titel für die Filmbiographie des Komponisten Joe E. Howard wird, geht der Komponist Harold Orlob vor Gericht und erstreitet die Rechte für die Melodie, die er als Angestellter im Howards Verlag verfaßt hat.

Vor "My Gal Sal" ist Dresser Musiker in der Formation von Howley, Haviland & Company, Verlagshaus des Erfolgsongs "The Sidewalks of New York". Dieses Lied, eine gemeinsame Arbeit des Vaudeville-Show-Künstlers Charles Lawlor und des Geschäftsmanns James W. Blake, wird von Lottie Gibson (als "The Little Magnet" dafür bekannt, herausragende Songs an sich zu ziehen) im Old London Theater an der Bowery aufgeführt. Howley, Haviland & Company publizieren auch den Millionenhit "In the Good Old Summertime", der anfänglich vom Komponisten und "Blackface-Minstrel" George "Honey" Evans als schwer vermarktbar abgetan wird, andere Verleger halten dieses Lied für zu sehr an eine Jahreszeit gebunden, um es das ganze Jahr über erfolgreich zu verkaufen. Das Verlagshaus T. B. Harms, das mit "The Bowery" und zwei weiteren Liedern von "A Trip to Chinatown" einen Vermarktungstrend für Songs aus Bühnenshows in Bewegung setzt, hat einen ähnlichen Mega-Hit mit "Daisy Bell" von Harry Dacre. Der Engländer Dacre schreibt diesen Song kurz nach seiner Ankunft in New York. Da Anfangs seine Wahlheimat vollkommen desinteressiert reagiert - die Amerikaner haben nämlich noch nicht begonnen, Fahrrad zu fahren - schickt Dacre sein Lied zurück nach England und dort wird es zum Verkaufsschlager. Bald jedoch erfährt "Daisy Bell" eine erfolgreiche Rückkehr nach New York, denn Fahrräder werden populär, und so wird unverzüglich dieses Lied vom Vaudeville-Pioneer Tony Pastor in seiner Music Hall in der East 14th Street und von Jessie Lindsay in The Atlantic Gardens in der Bowery aufgeführt.

Das erste Lied des erst dreizehnjährigen George M. Cohan, Mitglied der Vaudville-Show seiner Familie, wird im Jahre 1891 veröffentlicht. Cohan ist wie Pastor ein Erneuerer der Aufführungspraxis indem er Lieder szenisch aufführt. Bis zum Ende des Jahrhunderts präsentiert und bewirbt er Songs für 10 bis 25 Dollar. Von 1898 an schreibt er Hits, die sicherlich auch durch seine außergewöhnliche Bühnenpräsenz zum Triumph werden, 1904 folgen angefangen mit "Little Johnny Jones" eine ganze Reihe von erfolgreichen Ausstattungsstücken, Stücke, die das ideale Umfeld für Cohans überragendes Showtalent bieten. Eine gewisse Dosis an Patriotismus durfte natürlich nicht fehlen, "You're A Grand Old Flag" und andere Lieder singt Cohan umschlugen von einer amerikanischen Flagge.

Cohans Lieblings-Protegé heißt Gus Edward - Gustav Edward Simon, in Deutschland geboren, erlebt seine Kindheit in Brooklyn. Der junge Edward beginnt als Kasper vom Olymp, der von der hohen Galerie mit den Stars auf der Bühne Dialoge führt, mitsingt und Stichwörter gibt und für 5 Dollar die Woche als Werbesänger für den Witmark-Verlag arbeitet. Er kommt unter Cohans Fittiche als Mitglied des Newsboy Quintet und verläßt Witmark im Jahre 1905, um sein eigenes Geschäft in der 28. Straße, der Tin Pan Alley, zu eröffnen. Edward produziert die Bühnenshows "School Boys and Girls", in denen manchmal George Jessel, Grouche Marx und andere zukünftige Stars auftreten. "Schüler" Georgie Price parodiert den Edward Hit "By The Light Of The Silvery Moon", und "Schüler" Eddie Cantor feiert einen riesen Erfolg in Edwards "Kid Kabaret" mit "Waiting for the Robert E. Lee", eine Melange aus Südstaatenslang und Jiddisch.

Auch Albert von Tilzer's Baseball-Ode "Take Me Out to the Ball Game" wird in Jiddisch persifliert, doch Jiddisch ist nicht das einzige multikulturelle Element, das die Aufführungspraxis des neuen Jahrhunderts beeinflußt. Irische Balladen finden ihren Weg in die Theatershows, Chauncey Olcott singt "My Wild Irish Rose" in "A Romance Of Athlone" und Nora Bayes "Has Anybody Here Seen Kelly?" in "The Jolly Bachelors". Noch revolutionärer sind aber die rhytmischen und strukturellen Erneuerungen der afro-amerikanischen Musik, als einige clevere und weitsichtige Afro-Amerikaner beginnen, diese zu notieren und dadurch bald den Kompositionsstil beeinflußen. Ragtime bewegt mit Synkopen die gesamte Musikwelt und wird zur nationalen Modeverrücktheit, nachdem Pianist Scott Joplin aus Missouri 1899 sein erstes Stück für Klavier veröffentlicht. Der farbige Minstrel [als Neger zurechtgemachter Komiker] Ben Harney, der bis nach seinem Ableben für einen Weißen gehalten wird, hat im rassistischen New York mit seinen Auftritten in Tony Pastor's Music Hall den Ragtime populär gemacht. Ein Jahrzehnt später wird ein anderer afro-amerikanischer Trend gestartet, als W. C. Handy seinen "Memphis Blues" veröffentlicht, eine Bearbeitung eines Politsongs. Ohne die Weitsicht eines Charles Harris (und möglicherweise ohne Verhandlungsgeschick) verkauft Handy für nur 50 Dollar alle Rechte des "Memphis Blues" und auch des "St. Louis Blues", der einen noch größeren Erfolg erzielt. Die Massen feiern Bert Williams, der 1919 als erster Künstler mit schwarzer Hautfarbe im Variété Follies in einer Gruppe mit weißen Musikern auftritt, und auch die Musik von Shelton Brooks, einem schwarzer Entertainer, berühmt für seine Williams-Karikaturen, dessen "Some Of These Days" gesungen von "blackface-artist-turned-Red-Hot-Mama" Sophie Tucker zum Hit wird.

Tanzschritte werden zu einer weiteren Inspirationsquelle der Tin Pan Alley. So wird der "Castle Walk" von James Reece Europe für Vernon und Irene Castle komponiert, ein legendäres Tanzpaar, das auch Tango, Maxixe und Turkey Trot mit dem Lied "Everybody's Doin' It" von Irving Berlin populär macht. Dieser Song zeigt, besser als sein späterer Durchbruch im Jahre 1910 mit "Alexander's Ragtime Band", die bemerkenswerte Auffassungsgabe des blutjungen Irving Berlin für die neuen Ragtime-Rhythmen. In Pastor's Music Hall startet Berlin seine Karierre als Präsentator der Publikation von Harry von Tilzer, auch "Mr. Tin Pan Alley" genannt. Da Berlin nur in einer Tonart spielen kann, erfindet er eine Mechanik für das Klavier, die es ihm erlaubt per "Knopfdruck" zu transponieren, um so jeden Sänger begleiten zu können, auch, wenn ein Lied in mehreren Tonarten gesungen wird. Wie viele weitere wird Berlin von der Tin Pan Alley genährt, als das Klavier noch als elfenbeinernes Vehikel dient, um Songs um die Welt zu tragen, wo Schlager entstehen noch bevor es die Schallplattenindustrie gibt. Irving Berlin leitet in das goldene Zeitalter des "American Popular Songwriting" über, es folgt der I. Weltkrieg, dies ist aber eine ganz andere Geschichte.

- Interpretation nach einem Text von Bob Blumenthal


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