Marche fatale — Pastorale — Serynade
Eine Hymne an die Versöhnung zwischen zwei Abgründen

Stellen Sie sich eine seltsame Filmszene vor, in der ein und dieselbe Figur einundvierzig Mal hintereinander auftaucht. Ihre Silhouette bleibt fast immer gleich, nur ihre Präsenz schwindet manchmal ein wenig, dann wird ihre Substanz milchiger und poröser. Der Schatten, den diese Figur wirft, ist jedoch jedes Mal anders. Er wird länger oder breiter, zu Treppenstufen geformt oder durchlöchert und nimmt immer phantasmagorischere Formen an. Bei der sechsundzwanzigsten Erscheinung wird der Schatten plötzlich bedrohlich, intensiver, dunkler und größer, bis er die Figur ausblendet, den ganzen Bildschirm einnimmt und alles verschlingt, wie die schwarzen Flügel Mephistos in einer berühmten Szene in Murnaus Faust.

Die Figur : Ein zehntöniger Akkord aus acht eng miteinander verflochtenen Quarten, der in der zehnten Minute von Helmut Lachenmanns Serynade auftaucht.

Der Schatten : seine Resonanz, immer anders.
Der schwarze Bildschirm : eine Reihe von brüllenden Clustern, wobei der breiteste die maximale Schwingungsweite einnimmt, den zwei Unterarme erreichen können – genauer gesagt : ein Tritonus, der sich über fünfeinhalb Oktaven erstreckt, jenes Intervall, das man früher als diabolus in musica bezeichnete.

Marche fatale — Pastorale — Serynade

Muss alles gesagt werden ?

Muss ich enthüllen, dass mir die wahre Bedeutung dieses Programms – konzipiert im März 2020, aufgenommen im Februar 2021 –, erst nach dem 24. Februar 2022 klar wurde ?

Ist es wirklich notwendig zu sagen, dass die Pastorale – die hier von Liszt auf halluzinierende Weise neu erdacht wurde – einen neuen seltsamen Glanz entfaltet, wenn sie zwischen zwei Werken dieses anderen herausragenden deutschen Komponisten steht : Helmut Lachenmann ?
Muss ich mein dringendes Bedürfnis rechtfertigen, das Werk Beethovens von seinem Firnis zu befreien, seine Schattenseiten und Tiefen in einem grellen und harten Licht zu ergründen, in einer Geste, die dem Aufhängen eines Rembrandt-Bildes zwischen, sagen wir, zwei Gerhard Richter Bildern gleichkommt ?

Muss ich wirklich auf die dringende Aktualität dieser Pastorale hinweisen, die hier, zwischen diesen beiden Abgründen – Marche fatale und Serynade – stehend, den Menschen mehr denn je dazu auffordert, seinen Platz in der Harmonie des Universums und seine wahre Menschlichkeit wiederzufinden ?

« Ich habe mir irgendwann vorgenommen, das ‘Lächerliche’ als entlarvendes Wahrzeichen unserer am Abgrund stehenden Zivilsation ernst – vielleicht bitter ernst – zu nehmen. Der – wie es scheint unaufhaltsame – Weg ins schwarze Loch alles lähmenden Ungeistes : ‘das kann ja heiter werden’. Meine alte Forderung an mich und meine musikalische Umgebung, eine ‘Nicht-Musik’ zu schreiben, von wo aus der vertraute Musikbegriff sich neu und immer wieder anders bestimmt, so daß der Konzertsaal statt zur Zuflucht in trügerische Geborgenheiten zum Ort von geist-öffnenden Abenteuern wird, ist hier – vielleicht ? – auf verräterische Weise ‘entgleist’. Wie konnte das passieren ?
Der Rest ist – Denken. »
[Lachenmann : aus dem Vorwort zur Marche fatale]

Marche fatale : Mehr Zirkusmusik als Militärmarsch, geliehene Musik – « banal », wie Lachenmann sagt – sie bietet einen Umweg über Liszt [Liebestraum], die dunkle Seite der Politik [AfD – a f d – ritardando ad libitum], die Betäubung des Rausches [pesante, quasi ubriaco] und erlebt ein letztes und ergreifendes lyrisches Aufbäumen [Tristan : Schmachtend, più lento], bevor sie abrupt in einem frontalen Zusammenstoß endet.

Aus den noch rauchenden Überresten dieses tödlichen Marsches [Marche fatale] taucht die Pastorale auf. Auf ein ursprünglich für Klavier geschriebenes Werk, von dem Lachenmann später eine opulente Orchesterfassung schuf, die nicht weniger brillant und virtuos ist, folgt also umgekehrt ein Orchesterwerk, das von Franz Liszt in der von ihm erfundenen Form der Klavierpartitur neu geschaffen wurde. Danteske Vision [eine Szene am Bach, die einer existenziellen Meditation am Ufer des Lethe gleicht – Pedal una corda ad libitum durchgedrückt, wie ein schwarzer Krepp, der auf die Saiten des Instruments gelegt wird –, ein heulender und brüllender Sturm, der den Begriff der Klangfarbe am Klavier neu definiert, und sein Pendant in der zwanzigsten Minute der Serynade finden wird], aber zugleich ist sie auch ein dynamisches Fresko in den unterschiedlichsten Farbtönen und Tiefen, um die Beethovensche Formel abzuwandeln, « Ausdruck der Empfindung » wie auch « Malerey ».

Dann kommt die Serynade [1997-1998] : blendendes Licht und Granitschwarz, das Klavier, von Lachenmann in der Kontinuität der genialen Lisztschen Experimente neu erfunden, wird dialektisch.

« Das Klavier », schrieb er im Jahr 2000, « muss noch einmal ein neues, unbekanntes Instrument werden, wie es vorher noch keines gab. »
Der Komponist modelliert hier Akkorde und ihre « Schatten », diese erstaunlichen Resonanzen, die durch sukzessive Filterungen entstehen. In der 15. Minute tauchen fünf Akkorde aus einem der Deutschen Volkslieder von Brahms, « In stiller Nacht », auf, die wie Geistererscheinungen wirken - nur die Worte des Chors fehlen : « In der stillen Nacht, zur ersten Wacht, ein Stimm’ begunnt zu klagen [...] Der schöne Mond will untergahn, für Leid nicht mehr mag scheinen... »
 
« Was mich seit zwanzig Jahren umtrieb, war ursprünglich der Traum, Lieder zu schreiben […] Das ist mein altes Trauma: Lieder schreiben – richtig mit Stimme und Klavier […] Um dafür einen Klaviersatz zu entwickeln, schrieb ich seit 1985 Musik für Klavier. »

Traum, Trauma : Die Lyrik in der Serynade ist überall präsent. Helmut Lachenmann fordert von seinen Interpreten zunehmend, dass sie die Melodie singen, selbst wenn sie sich in höchsten Noten der Clustern versteckt. Daher ist es kein Zufall, dass dieses Werk, das reale und virtuelle Akkorde in ständiger Metamorphose zelebriert, mit einer langen Melodie aus einundfünfzig Noten schließt. Doch während die Pastorale mit dem außerordentlichen Elan der Versöhnung endete, scheint diese « einstimmige Choralmelodie » – die letzte Note, ein hohes Fis, ist mit ffff versehen – in die Tiefen jener « ewigen Stille der unendlichen Räume » gebrüllt zu werden, von der Blaise Pascal spricht.
 
« Wir sind am Ende eines Werkes woanders – und wir sind andere! – als wir am Anfang waren, als Komponisten – und als Hörer. »

Möge dies auch bei diesem Programm der Fall sein, das ganz einfach auch eine Hommage an die deutsche Musik ist.
— Jean-Pierre Collot


[Zitate aus dem Buch : Kunst als vom Geist beherrschte Magie von Helmut Lachenmann, 2021, Breitkopf & Härtel, Wiesbaden, Seite 303, 537, 547]

Jean-Pierre Collot
Geboren in Metz in einer Künstlerfamilie, studiert der französische Pianist Jean-Pierre Collot bei Jean-Claude Pennetier, Christian Ivaldi und dem Schüler von Messiaen Jean Koerner an der Pariser Hochschule [CNSM] sowie bei den russischen Pianisten Elena Varvarova, Evgeni Malinin und Rudolf Kerer.
Von 2003 bis 2017 wirkt er im ensemble recherche mit. Als Solist tritt er mit zahlreichen Orchestern und Ensembles auf, u. a. unter der Leitung von Pierre Boulez, Vladimir Jurowski, Kent Nagano, Emilio Pomàrico, Peter Rundel, Michael Wendeberg... Mit Komponisten wie Helmut Lachenmann, Salvatore Sciarrino, Hugues Dufourt, Brice Pauset u.a. arbeitet er eng zusammen.
Intensive Konzerttätigkeiten und Meisterklassen führen ihn nach Europa, in die Ukraine, nach Russland, Zentralasien, Japan, China und in die USA. Collot veröffentlicht zahlreiche Alben, darunter Werke von Schönberg, Wolpe, Kahn, Stockhausen, Henze, Ferneyhough, Dufourt, Rihm, Abrahamsen [Schnee, Winter & Winter], Pauset, Parra. Seine Soloalben, alle bei Winter & Winter erschienen, sind mehrmals ausgezeichnet worden : 2016, Universe  [Sciarrino, Debussy]; 2019, Espaces Imaginaires, Ersteinspielung des gesamten Klavierwerks von Jean Barraqué; 2020 folgte Spectral Visions of Goethe mit Werken von Hugues Dufourt und Schubert Liedern adaptiert von Liszt und Czerny; 2021 bekam das von ihm übersetzte und kommentierte Buch Maria Youdina / Pierre Souvtchinsky : Correspondance et documents [1959-1970] [Contrechamps, Genf, 2020] den Prix du Jury Claude Samuel/France Musique.
Jean-Pierre Collot lebt in München.


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